Stuttgart (1945-1956)

Die oben erwähnte Seife war mehr als ein Waschmittel. Als er nach Kriegsende in einem Güterwagen nach Hause fuhr, verlangsamte der Zug seine Geschwindigkeit bei der Durchfahrt einer Station. Auf dem Bahnsteig sah er einen amerikanischen Soldaten mit entblößtem Oberkörper, sich waschen. Besagtes Stück Seife lag neben der Waschschüssel. Während der junge Mann sich mit beiden Händen das Gesicht benetzte, sprang mein Vater aus dem fahrenden Zug, schnappte die Seife und schnellte wieder in den Wagon. Was er in der Hand hielt, bekam seinen besonderen Wert durch das Gesicht des Besatzers, der sich mit halboffenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen fassungslos im Kreis umsah.

 

Der Krieg war zu Ende, und das Leben in Frankreich war nun seine Vergangenheit geworden: eine weite Landschaft, eine Weltstadt mit durchlüfteter Anonymität, Neugier Erregendem, Unerwartetem, Vertrautem, einer Yvonne, vermutlich einem Sohn und der Melodie einer Sprache, die Verstand mit Lebenskunst vereint.

 

Mein Vater überließ sich nicht dem rückwärtsschauenden Trübsinn. Er entrümpelte eine Dienstmädchenkammer neben der Wohnung unter dem Dach und richtete sich eine Werkstatt ein. Die guten Angebote der Firmen Bosch und Daimler, die ihm alte Freunde aus der Gefangenschaft vermitteln wollten, schlug er nach kurzer Überlegung ab. Er hatte viel hinter sich lassen müssen, aber seine Freiheit gehörte ihm noch.

 

Als erstes sorgte er für den kommenden Winter. Zwei Räder und das Gestänge eines in den Ruinen gefundenen Fahrrades wurden zu einem Handwagen umgeschlossert. Dann ging er mit Axt und Säge und seiner Jüngsten die kurvenreiche Straße von Heslach in den Solitude-Wald, wo die Luftangriffe reichlich Holzvorrat geschlagen hatten. Er hatte sich einen Leseschein besorgt, der ausschließlich das Einsammeln dünner Zweige erlaubte. Diese wurden, um die kräftigen Stämme zu verbergen, oben aufgelegt. Auf dem Heimweg fürchtete ich mich vor der Kontrolle, die dem Waldfrevel Einhalt gebieten sollte. Meine Ängstlichkeit reizte den Vater, einen Umweg zur Stadtwaage einzuschlagen, wo er sich das beträchtliche Gewicht seiner Tagesarbeit amtlich bestätigen ließ.

 

Als wir den Wagen zuhause entluden, sah ich zwischen den Rundhölzern ein halbes Dutzend Stabbrandbomben liegen. Es waren Blindgänger, die auf weiches Laub gefallen waren. Diese seine Fundstücke. trug er selbst in den fünften Stock, wo er in seiner Werkstatt vorsichtig die Zündung abschraubte. Den achtkantigen Stab, der aus Aluminium- und Magnesiumpulver bestand, zerschnitt er mit der Metallsäge in daumendicke Scheiben, von denen jede einzelne im Ofen eine Höllenhitze ergab.

 

Am Heiligabend wollte er es besonders warm haben und seiner Schwägerin, die unser Gast war, zeigen, wie ein gutes Feuer Atmosphäre schafft. Er ließ ein bechergroßes Stück einer „Termite“ in die Glut des Ofens fallen, der es mit Fauchen und Zischen samt Klappe und Tür wieder ausspuckte. Die Tante ergriff ihre Handtasche und war schneller verschwunden als die gußeisernen Teile zu Boden kamen. Der Warmwasserkessel hatte aus senkrechtem Luftsprung die Löscharbeit begonnen, sodaß sich der Schaden in Grenzen hielt. Nachdem der Ofen ausgeräumt, die Chamotteplatten neu eingemauert, die Tür eingesetzt und das Ofenrohr wieder an seinem alten Platz war, gab es doch noch einen gemütlichen Abend, und von da an wurden nur noch kleinere Stücke verbrannt.

 

Wir warteten auf die Rückkehr meiner Schwester. Sie war im Sommer 1944 nach dem schweren Bombenangriff, auf den immer weitere folgten, mit ihrem kranken Säugling in den Schwarzwald geflohen. Dort sträubten sich die Bauern gegen die ihnen zugeteilten Städter. Eine Freundin aus Bigge in Westfalen holte sie von dort mit ihrem Auto ab und brachte sie nach Marburg in die Universitätsklinik. Die Ärzte stellten Ruhr fest und gaben der Mutter das Kind zurück, für das sie keine Rettung sahen. Die Freundin nahm beide zu sich in ihr Elternhaus. Dort stand eine Kuh im Keller. Frische Milch, Brennnesseln, Geeseln und andere wilde Kräuter bewirkten, was den Ärzten nicht gelungen war: Dorothee wurde gesund.

 

Mein Vater wollte von alledem nichts wissen. Er schätzte seine Tochter, aber das Kind wollte er nicht sehen. Er konnte sich nicht damit abfinden, daß seine Älteste unverheiratet ein Kind mit nachhause brachte. Er fühlte sich vor aller Welt blamiert. Es war ein schlechter Witz, und dazu noch ein Mädchen, das ihn zum Großvater degradierte. Als aber das blondgelockte Geschöpf ihm sein Händchen aufs Knie legte und ihn mit hellblauen Augen ansah, schmolz sein zornig aufgemauerter Sittenkodex dahin. Die beiden wurden unzertrennlich.

 

Sein Stolz kannte nun keine Grenzen mehr. Zwei Hellhäupter, ein weißes und ein blondes, gingen Hand in Hand zu allen erreichbaren Bekannten. Der weite Weg war für das kleine Mädchen oft eine harte Prüfung. Nicht selten war die Hose naß, aber der Großvater wußte für alles eine Lösung. Damit sich das Kind nicht erkälte, warf er eine Hand voll Sägemehl, das er auf einer Baustelle fand, in den Schlüpfer und weiter ging es durch die Straßen zu einem Kunden oder in eine Wirtschaft, wo der Zippel gut bekannt war. Dorothee mußte überall vorgeführt werden. Als sie später eigene Wege ging, waren es Fotografien und ihre Zeichnungen, die die Runde machten. Doch vorläufig paßte sie noch auf die Stange des Fahrrades, wo für sie ein kleiner Sitz und zwei Fußhalter angebracht wurden.

 

Wenn die Sonne schien, blieb die Werkstatt geschlossen. Brunnenkresse, wild gelegte Gänseeier, Äpfel, Pflaumen und seltene Pilze brachten sie am späten Nachmittag als Tagesbeute in den Satteltaschen mit. Es gab auch viel zu erzählen: Als bei einer Abfahrt der Baudenzug der Bremse riß und die Beschleunigung des Fahrrades nicht mehr aufzuhalten war, rief er: „Jetzt mach’ dich mal ganz rund, wir fahren in den Graben!“ Er peilte eine gut bewachsene Stelle an, wo sie sich beide mit Lust und Lachen überschlugen.

 

Nach diesem Purzelbaum möchte ich einen Gedankenstrich einfügen und für einen Augenblick den Vorsatz brechen, ausschließlich Fakten zu berichten. Ich will hier mit dem Mann, der mein Vater war, keinen außergewöhnlichen Menschen schildern. Wenn ich an ihn denke, versuche ich, mich an seine Zeit zu erinnern, eine Zeit, deren Helden und Scheusale in den Chroniken ihren Platz gefunden haben. Dort sind für die Nachwelt die hervorragenden Persönlichkeiten festgeschrieben, an die man sich erinnern wird. Mein Vater gehört zu den heute meist Vergessenen, zu jenen, die versuchten, sich mit dem Gegebenen abzufinden und mit dem Vorhandenen zu überleben. Auf diesem Feld war er ein genügsamer und aufrichtiger Mann, der niemals einem anderen auf die Füße trat. Er war kein Mitläufer, der den Mut im Gleichschritt findet; er hat auch nicht den Schutz im Kollektiv gesucht. Sein Freiheitsbegriff entsprach eher dem eines Wildpferdes als dem eines Philosophen oder politisch Engagierten. Alles, was mein Vater tat, dachte und empfand, tat, dachte und empfand er mit dem ganzen Körper. Sein aufrechter Gang war nicht das Ergebnis militärischer Dressur oder sportlichen Trainings, es war die Lebensneugier, die ihm den Hals streckte und die Augen weit offen hielt. Was sich oft als unglaubliche Geschicklichkeit darbot, war sei Erdvertrauen, das den Gliedern die notwendigen Reflexe eingab. Ich sehe noch die ruhigen Bewegungen seiner Hände, wenn er beim Feilen den linken Handballen zur Führung auf das Blatt legte, dem er mit sanftem Nachdruck die Richtung gab. Sein ganzer Körper nahm den Rhythmus der Arme auf, so daß selbst die schwersten Arbeiten ohne sichtbare Mühe vonstatten gingen.

 

Eleganz ist eine Tugend, die sich körperlich verwirklicht, doch die gezielten Bewegungen des Handwerkers übertreffen die des Athleten an Ästhetik, weil sie sich in den Werkstücken fortsetzen und als Kunst der Schöpfung ein weiteres Werk hinzufügen. Zwei Gegenstände habe ich aufbewahrt, die seine Handschrift tragen.

 

Das erste ist ein Gerät zur Aufbewahrung lebender Fliegen. Dieses besteht aus einer handtellergroßen, durchsichtigen Plastikdose, in deren Deckel ein fingerbreiter Schlitz ausgesägt ist, der mit einer gleichen Öffnung in einem Messingzylinder übereinstimmt, der zwischen die Wandung im Inneren der Dose mittels einer zentralen Achse befestigt ist. Das Loch im Zylinder kann sich mit einer Drehung desselben von außen nach innen öffnen, wie bei einer Drehtür, und das zuvor eingeführte Insekt unverletzt und sicher in die Dose befördern. Und es können weitere Fliegen ohne Lüften des Deckels aufgenommen werden, wobei die bereits eingefangenen nicht mehr entweichen. Daß die wiederholte Prozedur auch noch den lebenswichtigen Sauerstoff mit einschleust, ist einer jener segensreichen Nebeneffekte bahnbrechender Erfindungen, deren primärer Nutzen zuweilen infrage gestellt wird. Nicht so bei diesem Gerät. Der Laubfrosch, den meine Mutter im Wald gefangen hatte, nahm nur lebende Insekten an. Schmeißfliegen waren in der Stadtwohnung eine Rarität. Die wenigen, die sich bis in den fünften Stock verirrten, gerieten sofort in die Fänge der Katze, die viel flinker war als wir. So mußte ich im weiten Umkreis nach Beute suchen, wobei das oben beschriebene Objekt mir unentbehrlich war.

 

Der zweite Gegenstand meiner Sammlung ist ein fahrbares Trinkglas. Es war ursprünglich ein geschliffener tulpertförmiger Kelch gewesen, dessen Stiel abgebrochen war. Mein Vater fertigte einen Messingschaft, in den er den gläsernen Stumpf einpaßte. Als Standfläche stelle man sich ein liegendes, weichgeschwungenes X vor, dessen Arme mit zwei Achsen verbunden sind, um die sich jeweils eine Messingwalze dreht. Ich weiß nicht, ob ich dieses Fahrgestell vorstellbar beschreibe, da mir keine Vergleiche zur Verfügung stehen.

 

Die Funktion jedenfalls ist eindeutig. Mein Vater erläuterte und demonstrierte sie wie folgt: Dem Gast wird das mühsame Anheben des Glases beim Einschenken erspart. Er kann es einfach mit dem Strecken des Armes über den Tisch hinschieben und gefüllt wieder zu sich herziehen. Wem es einfiel, an der Nützlichkeit seiner Erfindungen zu zweifeln, dem gab er zu bedenken, daß Pfaff, der Erbauer der Nähmaschine, als armer Mann gestorben sei.

 

Das erdnahe Körpergefühl trug mein Vater als Erbgut seiner Urahnen, den Jägern und Sammlern in sich. Diese Verbundenheit ist nicht ausschließlich denen vorbehalten, die in wilder Natur leben. Auch die Großstadt kennt diese Wildlinge. Man nennt sie Originale, was so falsch nicht ist, denn ihr Leben ist keine Kopie nach zeitgefälligem Muster. Ihre Eigenständigkeit verwehrt es ihnen, sich einer Regel unterzuordnen. Sie sind immer ihr eigener Herr. Sie lassen sich keine Befehle geben und wollen keine erteilen. Als Unternehmer sind sie zum Scheitern vorbestimmt, doch als selbständige Handwerker, als Altwarensammler und -verwerter, ja als Tüftler haben sie ihren Platz in der Gesellschaft, genauer gesagt: sie hatten ihn. Die Massenfabrikation hat sie verdrängt. Das Flicken und Reparieren bedarf ein mehrfaches an Zeit als die Herstellung, und der Wert der Zeit ist dem des Geldes gewichen. Doch zurück in das erste Nachkriegsjahr.

 

Mein Vater sammelte alles, aber auch alles, was irgendwie, irgendwann zu irgendwas verwendet oder verwandelt werden konnte. Das Trümmerfeld einer zerbombten Stadt war für ihn sozusagen ein Geschenk des Himmels. Er kam immer schwer beladen von seinen Rundgängen zurück. In unsere Kellerräume wurden Zwischenböden und Regale eingezimmert, wo alles seinen Platz fand. Bretter, Vorhangschienen, Beschläge, krumme Nägel, rostige Schrauben, geschwungene Waschtischmarmorplatten, Ofenrohre, Stuhlbeine, alles brachte er in seine Waben ein.

 

Auf den Gehwegen war bald nichts mehr zu finden, da jeder Stuttgarter Hausbesitzer seine Ruine im Auge hatte und das Trottoir besenrein hielt. Aber es gab auch verlassene Trümmerstätten, und der Fundwert der Dinge steigerte sich mit dem Risiko einer Ruinenbesteigung, wie das Edelweiß, das seine Kostbarkeit der Höhe seines Standortes verdankt. Im vierten Stock eines von Bomben halbierten Hauses hingen die Reste der Wohnung der Familie eines Freundes aus der Gefangenschaft, der es bei Bosch zu etwas gebracht hatte. Dieser überließ in großzügiger Weise meinem Vater das Appartement zum Ausschlachten. Dort befand sich ein Kühlschrank, der, von der Straße aus gesehen, an jene Blume erinnerte, für die der Alpinist sein Leben riskiert. Vom dritten Stock an war das Treppenhaus ausgerissen. so daß uns nur die bloßgelegten Gasrohre und herunterhängendes Eisengestänge zum Erklimmen der letzten Etage dienten. Mein Vater erprobte jeweils die Stabilität der auskragenden Mauern, bevor er mich nachzog. Wir erreichten den trommelförmigen Bosch-Kühlschrank. Ihn anzuseilen war nicht einfach. Noch schwieriger war es, das schwere Kaliber aus schwindelnder Höhe hinunter zu befördern. Unten luden wir das Trumm auf den Handwagen und zogen es nachhause.

 

Wir hievten die kostbare Last in unseren fünften Stock. Einen Kühlschrank zu besitzen war ein unerhörter Luxus, und wir freuten uns alle, die Butter von nun an nicht mehr in den Keller tragen zu müssen. Als mein Vater das Wunderding installieren wollte, stellte sich heraus, daß die Luftmine, die das Haus halbiert hatte, auch das Innenleben des Gerätes zerstört hatte. Das trommelförmige Gehäuse konnten wir nicht einmal als Absteilfläche benutzen. Zum Trost zauberte der Vater aus prallgefüllten Jacken- und Hosentaschen salmfarbene Wäschestücke hervor, die er nebenbei aus der Damenkommode entnommen hatte.

 

Wie wurde der Zippel zu dem bis in die Fachkreise hochgeschätzten Uhrmacher? Es hatte sich herumgesprochen, daß er Unersetzliches reparieren konnte. Man brachte ihm die abgebrochene Pfeife, die Bratpfanne ohne Stiel, die Stehlampe. Der Weg zu der Dachkammer war zum Trampelpfad hilfesuchender Hausfrauen und Handwerker geworden. Bald schärfte er ein Sägeband für den Schreiner, indem er mit der Dreikantfeile jeden einzelnen Zahn nachzog, bald beugte er sich über einen elektrischen Heizofen, der durchgeglüht war, da kam Onkel Willy mit einem Wecker, der ihm in den Nachttopf gefallen war, und den kein Schütteln mehr zum Weiterticken brachte. Jedermann hätte sich vor Ekel steif gemacht. Nicht so mein Vater, für den der Wecker ein Glücks-Fall wurde. Er zerlegte das Uhrwerk, reinigte und ölte es und brachte es wieder zum Gehen. Es gibt Sternstunden in jedem Leben. Für meinen Vater wurde eine solche in der Sekunde eingetickt, als er diesen totgeglaubten Gegenstand wieder zum Leben erweckt hatte.

 

Sein Geschick sprach sich schnell herum. Wer hatte damals nicht eine kaputte Uhr in der Schublade, die durch keine neue zu ersetzen war? Auch als in Pforzheim und Schwenningen wieder produziert wurde, gab es keine Ersatzteile für alte Taschen- und Spindeluhren und für Kuckucksuhren, deren Räderwerk noch aus Holz war. Er baute eine Vorrichtung, mit der er Zahnräder aussägen konnte. Er berechnete den Durchmesser der Räder und die Zahl der Zähne, die benötigt werden, um Sekunden in Minuten und Minuten in Stunden zu übertragen. Er konstruierte eine Drehbank für die feinsten Wellen und für die dünnsten Bohrer, die er in einem kleinen Emailleofen härtete; darauf folgte die Bohrmaschine, die ihn in Uhrmacherkreisen als den Mann hervorhob, der die kleinsten Löcher bohren kann. Diesen Titel hat er gern getragen und vieldeutig zum Besten gegeben.

 

Jetzt waren es nicht mehr hilfesuchende Nachbarn, die in die Dachkammer hinaufstiegen, es kamen Antiquitätenhändler und Liebhaber, die ihm alte und seltene Stücke anvertrauten. Bald glich die Werkstatt selbst einem Uhrwerk. Er hatte sich dort ein schmales Bett aufgeschlagen und in der Nacht belauschte er den ruhigen Gang des Regulators, die Synkopen der Perpendikel verschiedener Standuhren, überzirpt vom Insektengeticke der kleineren Werke. Dann tauchte er in tiefen Schlaf, der auch von den viertelstündigen Gongschlägen nicht mehr gestört wurde. Wenn aber nur eine seiner Uhren stillstand, wachte er auf und wußte sogleich, welche es war.

 

Das Ausdenken eines technischen Problems war für ihn eine Lust, die mit Zeit und Mühe nicht aufzurechnen war, geschweige mit Geld. Ein Uhrwerk war unter seinen Händen ein Lebewesen geworden, und Leben ist nicht käuflich. Nun sollte er aber für seine Arbeit Geld verlangen. Vor solch einer Entscheidung wurde er ärgerlich. Dann forderte er z. B. für eine Wochenarbeit kurzerhand sieben Mark, weil ihm die Zahl irgendwie gefiel.

 

Der Maler Max Ackermann, den er im Mineralbad Leuze beim gegenseitigen Rückenschrubben öfters traf, rief: „O Wunder, es gibt heute noch etwas für zwei Mark!“ Die reparierte Taschenuhr tickte fortan für ihn mit Herz. Viele Kunden wurden Freunde, die ihn auch ohne Auftrag besuchten, nur um zu sehen, was er wieder ausgetüftelt hatte. Sie zeigten ihm Fundstücke aus England oder aus Frankreich, die ihnen auf der Reise nicht aufgefallen wären, wenn sie den Zippel nicht gekannt hätten. Zum Geld hatte mein Vater ein gespaltenes Verhältnis. Das Tauschen lag ihm näher, bei dem jedes Ding sein Gewicht hat, seinen Nährwert, seine Einmaligkeit. Er wußte wie jedermann, daß Geld notwendig ist, aber an sich etwas Abstraktes war. Der Vernunft gehorchend hatte er in Frankreich Aktien erworben, die allesamt zum Teufel gingen. Darauf gab er uns Kindern den Rat fürs Leben: „Wenn ihr euer Geld gut anlegen wollt, dann verschenkt es.“

 

Er kaufte sich später jeden Monat ein Los für die Staatslotterie. Auf meine Frage, ob diese Beträge nicht zum Fenster hinausgeworfenes Geld seien, meinte er, das Los sei ihm viel wert. Er könne dreißig Tage lang sich vorstellen, was er im Glücksfall anstellen würde: er ginge auf Reisen, malte sich exotische Landschaften aus, gründete eine Firma, in der er so und so viele Leute beschäftigte, und erfüllte sich viele Wünsche, die er nicht alle seinen Töchtern verraten wollte. Und das alles für nur eine Mark.

 

Mein Vater bezeichnete sich selbst als Realist. Zum rechten Umgang mit dem Geld soll man haushalten. Sparen genügt nicht, man muß vor allem günstig einkaufen; und jedermann weiß, daß die Waren im Dutzend billiger sind. Zwölf Dutzend Eier lassen sich in frischem Zustand kaum verbrauchen, aber es gibt immer jemand, dem man mit einem Ei eine Freude machen kann. Zwölf Karton Toilettenseife, die aufs einzelne Stück zurückdividiert spottbillig waren, verstellten den engen Raum in der Küche. Da er behauptete, das viele Waschen schädige die Haut und sich selbst an diesen Lehrsatz hielt, wurde jeder Besucher mit Seife bedacht, was als Abschiedsgeschenk oftmals Verwunderung auslöste. Die Kunden des Uhrmachers nahmen solche Gratifikationen lächelnd hin, manche setzten sogar eine Gönnermiene auf, als würden sie ihm mit der Entgegennahme einen Gefallen tun.

 

Am billigsten waren die Sachen bei den Auktionen. Er ging regelmäßig zu der Fundsachen-Versteigerung der Stuttgarter Straßenbahn. Dort gab es die besten Gelegenheitskäufe. Ein Strauß Regenschirme versorgte die erweiterte Familie mit buntgemusterten Unmöglichkeiten, die man ohne Reue irgendwo stehen lassen konnte. Er selbst genierte sich nicht, wie ein Fliegenpilz mit getupftem Damenschirm durch den Regen zu gehen. Dann brachte er einen Schuhkarton voll Brillen. Er breitete sie wie einen Schwärm toter Heuschrecken auf dem Eßtisch aus. Es war alles da: vom zusammenklappbaren Lorgnon über die Starbrille bis zum strassbesetzten Sonnenglas. Wir sollten uns doch bitte bedienen, wenigstens anprobieren sollten wir sie, ob uns nicht irgendeine paßt. Da es außer meiner Mutter in der Familie keine Brillenträger gab, und wir so wenig guten Willen zeigten, packte er seinen Schatz wieder in die Schachtel und trug sie in die Werkstatt. Von hier bekam jeder Kunde eine Brille mit auf den Weg. Seine Besucher waren nicht so wählerisch wie die eigene Familie. Jeder nahm ein oder zwei der angebotenen Augengläser mit. Darunter befand sich leider auch die Lesebrille meiner Mutter, die sie auf den Tisch gelegt hatte.

 

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