2. Weltkrieg (1939-1945)

Vater verließ als letzter das Haus. Mutter, Herta und ich warteten im Auto, in dem schon die Koffer verstaut waren. Als er das Gartentor hinter sich zugezogen hatte, sah er sich nicht mehr um. Er wirkte weder nervös noch deprimiert. Seine gezielten Bewegungen hatten etwas Beruhigendes. Wir fuhren bis zur Gare de l’Est, wo ein tschechischer Freund wartete, dem er seinen Peugeot übergab. Bruno Wircsewsky half uns dann mit dem Gepäck bis an den Zug.

 

In Saarbrücken quartierten wir uns bei der Großmutter ein. Mein Vater wollte in der Nähe der Grenze bleiben, denn er hoffte auf ein Wunder. Als das deutsche Heer in Polen einmarschierte, glaubte er immer noch nicht an einen Krieg. Er ging jeden Tag mit seinen Töchtern ins Freibad. Wir saßen auf dem Rasen und bewunderten die Kunstspringer, die vom Dreimeterbrett ihren Salto übten, als der Lautsprecher die Kriegserklärung durchgab. Nun war keine Hoffnung mehr. Wir reisten nach Stuttgart weiter, wo wir vom Schwager meiner Mutter aufgenommen wurden.

 

Onkel Willy war ein SA-Mann. Nach zwölfjähriger Arbeitslosigkeit, mit kurzen Unterbrechungen als Losverkäufer, hatte er sich der Überzeugung angeschlossen, Deutschland brauche einen starken Mann. Dieser hing eingerahmt, in strammer Haltung, mit ins Koppel eingehängten Daumen über dem Volksempfänger im Eßzimmer. Willys temperamentvolle Frau, die er all die schweren Jahre mit Liebe umsorgt hatte, war bis zum Skelett abgemagert. Sie befand sich im Bürgerhospital, wo sie ihr Leben aushustete. Auch die einzige Tochter hatte Tuberkulose und wartete auf einen Platz im Sanatorium. Er selbst verrichtete täglich seinen Dienst und freute sich, uns mit einem Obdach helfen zu können.

 

Er nahm auch bald den jüngsten Bruder meines Vaters auf mit seiner französischen Frau und dem Kleinkind, die noch in letzter Minute die Grenze passiert hatten. Zu acht füllten wir seine Dreizimmer-Wohnung. Er selbst zog sich in eine windige Kammer zurück, wo wir ihn nachts husten hörten. (Ich schäme mich noch heute, daß wir es dem Mann nie gedankt haben. Der eigene Schmerz über die jähe Unterbrechung einer beginnenden Jugend und das Heimweh haben meiner Schwester und mir die Sicht auf die großzügige Menschlichkeit versperrt, die unter der braunen Uniform steckte.)

 

Mein Vater mußte keine Uniform tragen. Er hat nach der „drôle de guerre“ einen Weg gefunden, als Techniker in einer Waffenfabrik wieder nach Frankreich zu kommen. In Châtellerault, einer Kleinstadt zwischen Tours und Poitiers, wohnte er bei einer Witwe in einem alten Schloß. Als Zivilist konnte er sich von den deutschen Besatzern in angenehmer Entfernung halten. Die Einheimischen hatten bald Vertrauen zu ihm; somit konnte er manchem helfen, über die Demarkationslinie nach Süden zu fliehen, wobei seine Motive weniger in einer politischen oder antirassistischen Parteinahme lagen, als in seiner Freude am Risiko, mit der er fraglos jedem half, der in Not war.

 

Sicherlich hat er auch in der Fabrik für menschliche Erleichterungen gesorgt. Seine Bemühungen wurden durch den für Offiziere üppig fließenden Wein begünstigt. Dem aktiven Widerstand hat er sich nicht angeschlossen. Er beobachtete, daß der Alkohol ein besserer Heckenschütze war. Zwei Mal mußte er einem Staatsbegräbnis beiwohnen, weil der unter den Tisch gefallene Offizier nicht wieder aufgestanden war. Er half dann der Witwe vor der Heimreise beim Einkaufen und hatte damit seine Pflicht erfüllt.

 

Von seiner Tätigkeit in der Fabnk hat er nicht viel erzählt. Wichtiger waren für ihn die Radfahrten durch die schöne Landschaft zu den Bauernhöfen, wenn Schlachtfest war. An seinem Himmelbett hingen dann Würste und Schinken. Zum Weihnachtsurlaub kam er mit einem schwer beladenen Munitionswagen nach Stuttgart. Säcke und Kartons wurden in die Dachwohnung getragen, die seine Familie zwischenzeitlich in der Weißenburgstraße bezogen hatte. Es folgten Körbe voll mit Flaschen, Schinken und Pasteten, Weichkäse, Butter, ein ganzer Kalbskopf, ein Tannenbaum, ein Sack Maronen und zum Schluß noch ein lebendes Huhn. Wir sollten uns freuen.

 

Die verderblichen Eßwaren müssen sofort und auf der Stelle verwertet, abgekocht und konserviert werden. Die Küche gleicht jetzt dem Oberdeck eines Frachtdampfers, der in Sturm geraten ist. Während der Kapitän mit scharf geschliffenem Messer den Kalbskopf für die Sülze zerlegt, ruft er seine Befehle aus: Wasser aufsetzen, Speck würfeln, Zwiebeln schneiden, Karotten schaben, Fleischbrühe abschäumen, Einweckgläser heiß auswaschen, einen großen Topf bereitstellen, sieden, sieben, umgießen! Er bewegt sich auf den inzwischen glitschig gespritzten Fliesen wie auf Schlittschuhen, rührt um, schmeckt ab, salzt nach, gibt Anweisungen und deutet dabei mit dem vollen Schöpflöffel in Richtung der Gewürze. Im Schließkorb meldet sich das Huhn.

 

Jetzt muß das Schweinefleisch angebraten werden, und zwar scharf, damit es sich besser konserviert. Die fette Brühe wird umgeschüttet. „Habt ihr kein größeres Gefäß?“ Zu spät! Die Sellerieknolle rutscht in die randvolle Schüssel. Die Mannschaft bewegt sich im Laufschritt über das schmale Deck, während der Kapitän im Hagelgewittergeräusch heißspritzender Fette weitere Befehle ausstößt. Das verdunkelte Küchenfenster darf nicht geöffnet werden. Fleischbrühdampf und Rauchschwaden angebrannter Zwiebeln können nur durch das Wohn- und die Schlafzimmer abgeleitet werden, wo sie sich in den Kleiderschränken als bleibende Erinnerung an Vaters Urlaube erhalten.

 

Irgendwann legt sich jedes Gewitter. Für den Helden endet damit die Vorstellung, die für jene erst beginnt, die mit dem Aufräumen und Putzen beschäftigt sind. Schwamm drüber! Aber was machen wir mit dem Huhn, das wir bereits lieb gewonnen haben? Mein Vater wird ärgerlich, und der Metzger hat schon Feierabend.

 

Mein Vater mochte nicht ungeteilt genießen. Bei allen guten Sachen, die er auspackte, hieß es: „Aber nur, wenn Gäste kommen!“ Diese ließen sich nicht lange bitten, und so waren die „Fleischtöpfe Ägyptens“, wie er sein Mitgebrachtes benannte, sehr bald verzehrt und verteilt. Denn jedem Gast gab er noch zusätzlich etwas auf den Heimweg mit. Das Lustgefühl, einen Menschen mit Begehrtem oder Außergewöhnlichem zu überraschen und dabei sein Gesicht zu beobachten, seine Freude oder seine Verlegenheit auszukosten, ließ sich der Geber nicht entgehen.

 

Der Beschenkte oder Tischgast mußte dann seine Freude mehrfach bekunden: „Hat es geschmeckt, war der Wein in Ordnung, war die Sauce richtig gewürzt?“ Fragen, die er bis zur Erschöpfung des Wortschatzes der Geladenen wiederholte. Vom „ausgezeichnet“, „hervorragend“ bis zum schlichten „Mhm“ war ihm jede Äußerung wichtig, und er scheute sich nicht, sie immer wieder einzufordern. Das Schenken war für ihn ein lebensbestätigendes Ereignis. Wenn er sich an jemanden erinnerte, brachte er die Person als erstes mit den Gaben in Verbindung, mit denen er sie bedacht hatte: „Ist das nicht die Kleine, die von mir die Seife bekommen hat?“ Er konnte sich auch nach langer Zeit ganz unbefangen nach den Gegenständen erkundigen, mit denen er Freude bereitet hatte. Er forderte weder Dankbarkeit noch Gegenleistungen, ja, diese wären ihm höchst lästig gewesen. Er wollte nur immer wieder ein verklärtes Gesicht sehen. Verlegenheit war ihm nicht unwillkommen, selbst Ungeduld nahm er in Kauf. So fragte er mich bei jedem Wiedersehen: „Geht die Uhr?“ Sie ging vierzehn Jahre.

 

Er selbst war mit seinen Bedürfnissen sehr mäßig. Er wußte einen guten Wein zu schätzen, ich habe ihn jedoch kein einziges Mal angetrunken erlebt. Er aß nicht viel, legte aber größten Wert auf schmackhafte Zubereitung. Für Besitz hatte er wenig Sinn, diesen empfand er vornehmlich als Belastung. Er ging nicht so weit, ihn bei anderen zu verachten, nur für ihn selbst bedeutete er eine Beeinträchtigung seiner Beweglichkeit, wie Manschetten oder ein zu enger Kragen. Aber er liebte das Schöne und die kleinen, ausgefallenen Dinge, die noch kostbarer wurden, wenn sich möglichst viele daran erfreuten.

 

Er konnte ohne weiteres denselben Gegenstand mehrfach verschenken. So machte eine Elfenbein-Toilettengarnitur die Runde, von seiner Frau zu seiner älteren Tochter, bis sie bei einer Cousine, die er kurze Zeit verehrte, ihren Platz fand. Seine Geschenke waren oftmals mit einer Geschichte verbunden, die dem Gegenstand einen persönlichen Wert gaben.

 

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