Tante Helene

(Abdruck aus: Eva Zippel; Angelika Fellmer (Redaktion); Carola M. Hoehne (Redaktion): Geschriebenes. Nachtgedanken, Erzählungen, Literarische Skizzen, Stuttgart 2011)

 

Portrait einer Stuttgarterin (1853-1941)

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Jeder, der sie kannte, schnitt sich das Bild aus der Zeitung. Es waren viele, denn die Marschnerin war stadtbekannt.

 

Ihren fünfundachtzigsten Geburtstag feierte sie im Heslacher Schwimmbad, wo sie sich, bis zur Brust ins Wasser getaucht, mit ernstem Blick, unter festgezurrter Gummibadehaube, dem Photographen stellte. Als Vorstand des Männerturnvereins war sie an diesem Jubeltag ihrer Mannschaft einen Kopfsprung vom Dreimeterbrett schuldig, den sie in tadelloser Haltung vollstreckte. Die Augenzeugen ärgerten sich, daß der NS–Kurier diesen Sprung unerwähnt ließ. Ich kann mir vorstellen, daß Helene auf den Abgang des Reporters gewartet hat, dem sie nur ein Brustbild gönnte.

 

1853 geboren, hat sie nicht das zwanzigste Jahrhundert abgewartet, um als Unverheiratete ein eigenständiges Leben zu führen. Sie war immer unterwegs. Zwischen Heslach und Berg lag ihr Revier: Mineralbad, Büchsenbad und das moderne Heslacher.

 

In der Talsohle, wo sich der Nesenbach versteckt, war auch die Verwandtschaft zuhause, mit einer unübersehbaren Schar von Kindern, die sie wohl als einzige richtig zuordnen konnte. Die Berufsmasseurin (sprich ,Masseese’) war der Familienschreck für die sieben Neffen und Nichten und die zwanzig Enkel ihrer Schwester Elisabeth, denen sie allen, ob sie es wollten oder nicht, das Schwimmen beibrachte. Tante Helene hatte einen harten Griff, mit dem sie den Neuling am Nacken packte und – wenn er sich ängstlich benahm – kurz untertauchte.

 

In der Chronik der Stuttgarter Straßenbahn müßte Helene Marschner verzeichnet sein. Die Linie 1 war ihr zweites Domizil. Bei den Schaffnern war sie ein gefürchteter Fahrgast, was eine Umkehrung der herrschenden Ordnung bedeutete, denn sie waren bis zu ihrer Ausrottung durch die Automaten eine gefürchtete Erscheinung im Stuttgarter Stadtleben. Tante Helene legte sich mit jedem Schaffner an. Ihr blieb keine Antwort in der Kehle stecken, was für die Nichtbetroffenen immer ergötzlich war. Wenn die Marschnerin den Einser bestieg, versprach die Fahrt kurzweilig zu werden. Manch Bediensteter verstummte in ihrer Gegenwart, um nicht Gegenstand der allgemeinen Belustigung zu werden. Es ist nur eine Begebenheit überliefert, bei der Tante Helene nicht das letzte Wort behielt: Bei einer Karambolage am Wilhelmsbau mußte der Führer die Bremskurbel so heftig drehen, daß der Wagen plötzlich zum Stillstand kam. Noch bevor sich die Fahrgäste festhalten konnten, übertönte Helenes scharfer Schrei das metallische Quietschen der Räder. Im Mittelgang saß der Schaffner auf seinem Hinterteil. Die Tante beugte sich über sein käsbleiches Gesicht und fragte : „Send se soo verschrocke ?“ – „Net von dem Zammestoß“ maulte der Gestürzte, „aber von Ihr’m Gschrei!“

 



Tante Helenes Schreie waren gefürchtet. Sie kündigten schon auf der Straße ihren Besuch an, auf den man zu jeder Zeit gefaßt sein mußte. Manchmal lud sie uns zu sich in die Tübingerstraße ein. Man saß im Kreis der Verwandten beim Sonntagnachmittagskaffee in der Wohnstube.

 

Tante Helene schnitt stehend den selbstgebackenen Zwetschenkuchen auf. Dies war immer eine feierliche Handlung, bei der die Gespräche in der Schwebe blieben. Plötzlich stieß sie einen hellen Schrei aus. Fast im selben Augenblick hörten wir aus der Küche den Wasserkessel pfeiffen. Helene hielt ihren Schrei eine halbe Tonhöhe über dem der Kesselpfeife so lange an, bis sie im Sturmschritt den Gasherd erreicht hatte.

 

Einen durchdringenden Schrei gab es auch in der Königsbaukonditorei. bevor die Tante den Teller mit der Kuchengabel betrommelte. Wir dachten, der Teufel stecke in der Torte. Helene rief mit einem „Sie, Frailein“ die Bedienung herbei und kritisierte in den höchsten Tönen die Buttercreme, wobei ich zum ersten Mal – es war im Jahr 1931 – das Wort „Margarine“ hörte, das ich dann lange für ein böses Schimpfwort hielt.

 

Tante Helene ließ es sich nicht nehmen, uns Kinder in die Wilhelma zu führen. Sie hatte für die Affen und die Elefanten eine Tragetasche voller Brotreste mitgebracht. Dicht am Gehege der Straußenvögel und Zebras stand eine Bank, auf die wir uns setzten. Meine Schwester und ich und in der Mitte die Tante, die, in den Beutel greifend, die harten Brotkanten zwischen Daumen und Zeigefingerknöchel zu zerkleinern begann. Durch die weiten Maschen des Drahtzaunes streckte sich langsam und gezielt der schenkeldicke Hals des Vogel Strauß über Helenes Schulter in Richtung Brotsack. Wir Kinder sahen es kommen. Wir verhielten uns ganz still und starrten aus den Augenwinkeln in gespannter Erwartung. Umso heftiger erschraken wir über den Urschrei, der jäh das paradiesische Bild in der Luft zerfetzte. Der Vogel Strauß war vom Erdboden verschwunden, und wir klammerten uns noch mit beiden Händen an der Sitzkante fest. als Tante Helene schon aufgestanden war und sich mit dem Handrücken die Krümel vom Tuchrock schlug. Keiner konnte sie erschrecken, ihre Schreie kamen immer den Ereignissen zuvor!

 

Helene Marschner starb mit 88 Jahren im Marienhospital, in Rufweite des Bades, wo sie abgebildet ist. Sie hatte sich bei einem Sturz das Bein gebrochen. Da sie nicht aufstehen durfte und die Welt ohne sie auszukommen schien, hat sie sich lautlos verabschiedet.