Stuttgart (1918-1926)

844
Waldemar Zippel, 1918

Sie hat vier Jahre auf ihn gewartet und immer wieder den Schrank geöffnet, wo seine Lodenwanderjacke hing, die nach frischer Luft und Tannenwald roch.

Als er zurückkam, war sein Geruch ein anderer, und er hat sie geheiratet, wie er es versprochen hatte. Hatten sie doch gemeinsam die Lieder gesungen vom Lindenbaum und vom Land, wo die Zitronen blühen, vom gebrochenen Herzen und von dem Mühlrad, das endlich stillstand, als vier Bretter gefallen waren. Sie hatten vom Wandersmann gesungen, mit dem Sträußchen am Hute, für den es hienieden keine Bleibe gibt; Lieder voller Traurigkeit und Sehnsucht.

 

Er hatte sie auf den Hessigheimer Felsengärten kennengelernt. wo sich zwei jugendliche Wandergruppen begegnet waren. Ihm war beim Klettern die Hose geplatzt, und da zog ein Mädchen ihr Nähzeug aus dem Rucksack. Während sie das Mißgeschick in Ordnung brachte, ließ sie sich von dem verschämten Kichern ihrer Begleiterinnen nicht in Verlegenheit bringen. Sie wird auch die Bemerkungen der jungen Männer überhört haben. Das Selbstverständliche ihrer Hilfe in dieser peinlichen Lage imponierte dem Handwerker, der aus seinem bürgerlichen Gehäuse ausgebrochen war, wo die natürlichen Lebensäußerungen nur durch die Fingerspalten beobachtet werden.

 

Es hatte ihm auch gefallen, daß sie zu den Ersten gehörte, die den Stehkragen abgelegt hatten, daß sie mit offenen Revers und ohne Hut durch die Natur ging, daß sie Spinoza las, Karl Marx und von der sozialistischen Arbeiterbewegung wußte. Er hatte dann ihre Fertigkeit beim Zeichnen bewundert und wird dabei auch ihre schönen Hände betrachtet haben. Sie entwarf Stickmuster in einem Handarbeitsgeschäft und konnte freihändig Rosen, Lilien und geschwungene Ornamente zeichnen, die sie auf Rasterpapier übertrug.

 

Nach vier Jahren Gefangenschaft unter Männern, die die Welt kannten, unter angehenden Diplomaten, gescheiterten Existenzen, Gelehrten, Ganoven und Syphilitikem sah er nun die gestickten Lautenbänder mit anderen Augen. Noch wäre es Zeit gewesen, weiter zu ziehen, aber der Brauch, an den das Gewissen verankert ist, hat für ihn entschieden.

 

In Deutschland standen die Räder still; das lang Ersparte, von der Braut Stich um Stich Verdiente, war über Nacht dahin. Die alten Werte galten nicht mehr. Hier war die schöne Müllerin eine harte Geschäftsfrau geworden, da mußte das Häuschen im Wiesengrunde verkauft werden, selbst die Arbeit der Hände galt nichts mehr. Die Überlebenskunst hatte ihre Grundlage verändert und ihre Akteure gewechselt. Transaktion, Spekulation, waren die furchterregenden Zauberworte, die der Handwerker nicht verstand. Waren sie doch alle folgsam gewesen, hatten gearbeitet. gespart, waren im Feld, hatten Gold für Eisen gegeben und ihre Söhne fürs Vaterland. Dieses Elend durfte und konnte nicht sein; da mußte es doch einen geben, der an allem schuld war oder eine Gruppe, die alles verraten hatte!

 

Doch die politischen Ereignisse drangen für die meisten nur wie ein schwaches Wetterleuchten über die Wand der täglichen Sorgen. Der Wettlauf um den Einkauf der Lebensmittel, deren Preis am Abend schon den Tageslohn überschritten hatte, das vergebliche Anstehen um irgendeine Arbeit und der Hunger nahmen ihnen das Nachdenken ab.

 

Das Handarbeitsgeschäft konnte meiner Mutter den Lohn nicht mehr ausbezahlen, so beschlossen sie beide, sich selbständig zu machen. Mein Vater richtete in der Dachkammer, die sie in Feuerbach, einem Stuttgarter Vorort, bezogen hatten, eine Zeichenwerkstatt ein: zwei Böcke und ein Brett. Er konstruierte eine Stüpfelmaschine, mit der sie ihre Entwürfe ohne Rasterpapier direkt auf den Stoff übertragen konnte. Das jungvermählte Paar konnte von den Entwürfen meiner Mutter bescheiden leben, und mein Vater bereitete sich auf den theoretischen Teil seiner Meisterprüfung vor. Ich kann mir vorstellen, daß sie glücklich waren. Es war ein Anfang.

 

Mangels Platz wurde Hertas Bettchen unter den Zeichentisch geschoben. Fast drei Jahre hatte meine Mutter auf dieses Ereignis gewartet. Mein Vater, dessen Liebe zur Natur untrennbar mit seinem Sinn für das Schöne verbunden war, hatte aus unausweichlicher Nähe erleben müssen, wie der Körper seiner Frau schmerzlich verunstaltet wurde und ein kritischer Geist in wortlose Brutwärme eingetaucht war. Der Dreißigjährige verfügte nicht über eine Doktrin, die ihm diesen Vorgang als gut und verehrenswürdig nachweisen konnte. Er hatte zwar Mitleid mit der gepeinigten Kreatur, fühlte sich aber von einem Vorgang ausgeschlossen, den er nicht nachempfinden konnte. Seine Sinne waren gekränkt, somit war auch sein Vernunft machtlos. Er wandte sich ab.

 

Im darunterliegenden Stockwerk wohnte eine junge Frau, die ihm half, sein Selbstbewußtsein wieder zu finden. Er fand auch eine Arbeit und wurde bald an seiner Werkbank als erfindungsreicher Mechaniker beobachtet. Zwei Herren forderten ihn auf, in Mailand mit ihnen eine Firma zu gründen. Er nahm den Vorschlag, der ihn aus mancherlei Bedrängnis zu befreien versprach, mit Freuden an.

 

Darauf kündigte ich mich an, wie ein Schicksalsschlag. Als dieser Klotz-am-Bein sich auch noch als Mädchen entpuppte, überkam ihn Zorn und ein Nichtverstehenkönnen, das er hinter einer zynischen Maske verbarg. Ich habe das einseitige Grinsen mit halbgeschlossenen Augen damals nicht gesehen, konnte es aber später immer wieder beobachten, wenn von Kinderreichtum die Rede war und von weiblichen Organen.

 

Aber mein Vater war nicht nachtragend. Er nahm den unaufhörlich brüllenden Säugling mit in das Land, wo die Zitronen blühen. In Chinisello blieb die Familie einen ganzen Winter lang. Es war ein Jahrhundertwinter, der die Toskana mit einer sibirischen Schneedecke überzog. Meine Mutter begann, sich in diesem Land wohlzufühlen, es gab dort Menschen, die ihre Schönheit wahrnahmen, das gefiel meinem Vater. Die Firma überlebte den Winter nicht. Der Techniker, der noch an den goldenen Boden des Handwerks geglaubt, der in der Gefangenschaft als Organisator den Erfolg erlebt hatte, blieb als Verlierer zurück. Sein praktisches Denken war vor dem Abstrakten gescheitert, das von nun an die Welt beherrschen sollte. Er stand vor einem Gegner, den er nicht fassen konnte. Er gab seinem Zorn spontan Ausdruck, wobei er aber nie das Maß verlor, über das sich der Aufgebrachte selbst entwürdigt. Er überließ sich auch nicht der Verbitterung; er begann von neuem.

 

 Weiter