Rede von Petra von Olschowski

Olschowski 2015.pdf
Adobe Acrobat Dokument 47.9 KB
1254

Foto: Renate Maucher

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Eva Zippel – Skulpturen,
Reliefs, Zeichnungen“ am 16. Dezember 2015 in der
Gedok-Galerie


Liebe Angelika Fellmer,
liebe Freundinnen und Freunde von Eva Zippel,
meine sehr geehrten Damen und Herren –


Eva Zippel in der Gedok-Galerie – wo sonst?
Es war ihr Haus, ihr Ort, über Jahrzehnte hinweg.


Als ich zum ersten Mal bewusst hierher kam, um für eine der Zeitungen,
für die ich damals – Ende der 1980er Jahre – arbeitete, eine Geschichte
über die Stuttgarter Gedok zu schreiben, traf ich die damalige Vorsitzende
Angelika Fellmer eben genau hier. Es sollte ein Gespräch über das
Programm und die Idee der Gedok werden. Und ich weiß gut, dass es nicht
lang dauerte, bis Angelika Fellmer mich durchs Haus ein paar Treppen
hoch ins Atelier von Eva Zippel führte. Gut eingespielt, wie beide damals
schon waren, dachten sie sich wohl, es könne nicht schaden, wenn die
junge Journalistin einen Blick ins wahre Innere der Gedok werfen würde, in
eines der Ateliers, um zu verstehen, was wirklich hier passierte, wer die
Menschen hinter der schönen 50er Jahre Fassade waren.

 

Und es hat funktioniert. Ich war fasziniert und empfand diese Möglichkeit
des Blicks dahinter auch als eine Art Vertrauensbeweis.

 

Ich muss allerdings zugeben, dass ich nur eine vage Erinnerung daran
habe, an was Eva Zippel damals arbeitete, was im Atelier stand oder an
der Wand hing. Geblieben ist der Eindruck eines konzentrierten, einfachen,
stimmigen Arbeits- und Lebensraums, der mich beeindruckt hat, und vor
allem ihres sehr offenen, klaren Blicks, der mir – auch bei späteren
Begegnungen – Respekt eingeflößt hat und der von einer gewissen
Schönheit war. Gesprochen haben wir wohl nicht viel. Und auch, als ich vor
wenigen Jahren noch einmal bei ihr saß – damals auf Recherche zu John
Crankos frühen Stuttgarter Jahren – war das Gespräch ebenso konzentriert
und in gewisser Weise sparsam wie alles um sie herum.


Dieser Tage war ich noch einmal oben in ihrer Wohnung. Da steht nun an
die Wand gelehnt ein Porträt, das Eva Zippels Schwester Herta Poddine in
jungen Jahren von ihr gemalt hat; Herta, die damals eine große Malerin
werden wollte und die zu ihrer kleinen Schwester gesagt hat: „Weißt Du,
Bilder, auf denen kein Rot vorkommt, sind keine guten Bilder“, diese Herta
malte ihre Schwester in einer Art neusachlichem Stil in einen leuchtend
roten Pullover gekleidet mit dichtem braunem Pony und Pagenkopf frontal
an einem Tisch sitzend, den Arm aufgestellt, den Kopf in die Hand gelegt.
Eva, die Nachdenkliche, die Ernste, in sich Gekehrte, offenbar damals
schon, und zugleich Eva ganz sinnlich, körperlich präsent.

 

Meine Damen und Herren, ich habe Eva Zippel nicht gut gekannt, ganz im
Unterschied zu vielen von Ihnen. Und wenn man die analytische,

manchmal auch distanzierte Art bedenkt, in der sie als Künstlerin selbst
über Kunst geschrieben und nachgedacht hat, dann verbietet es sich
geradezu, über ihre Biografie und über ihre innere Haltung Vermutungen
anzustellen, wo es doch etwas zu sehen gibt, was ganz konkret da ist und
um was es gehen sollte: nämlich ihre Kunst in dieser Ausstellung. Aber so
einfach ist das ja nun nicht, wie schon Elisabeth Plünnecke 1975 zur
Eröffnung einer Ausstellung in der Galerie Maercklin gesagt hat:
„Bekommen Sie einmal die klare Eva Zippel und ihr Werk in den Griff. Eva
Zippels Werk können Sie anfassen, es betasten, mit der Hand, mit den
Augen. Aber in den Griff? Nein. Es entzieht sich wie alles Leben.“


Tatsächlich hat die Distanz der Jahre und der nun möglich gewordene Blick
auf ein abgeschlossenes Schaffen daran nichts geändert. Es bleibt in
dieser ganzen Klarheit so viel Rätselhaftes, und zugleich ergibt sich wie ein
Mosaik das Bild eines nicht ganz untypischen Künstlerinnenlebens des 20.
Jahrhunderts. Dabei entsteht in mir mehr und mehr der Eindruck, dass
man es hier nicht nur mit einer Künstlerin, sondern mit einer
Intellektuellen zu tun hat, für die die Kunst ein Ausdrucksmittel neben
anderen war – neben der Musik, neben dem Schreiben. Bei der es also ein
Fehler wäre, die Kunst als einziges Vermächtnis zu sehen. Aber sicher bin
ich nicht.


„Ein authentischer Künstler“, so hat sie selbst es in ihrem Vortrag über die
Philosophin Simone Weil und deren Begriff von Schönheit geschrieben,
„ein authentischer Künstler ist jener, der die Wirklichkeit sucht und die
Wahrheit, die sich hinter ihr verbirgt.“ Diese Wahrheitssuche hat Eva
Zippels Leben und Arbeiten in gewisser Weise bestimmt.


Da nicht alle hier die Lebensdaten parat haben dürften, zu Beginn ein paar
Fakten:
1925 in Stuttgart geboren, ist Eva Zippel bis 1939 in Paris aufgewachsen,
zieht dann mit der Familie wieder zurück nach Stuttgart, wo sie nach 1945
zunächst als Dolmetscherin arbeitet, dann ab 1946 bei Otto Baum an der
Stuttgarter Akademie Bildhauerei studiert. Parallel beginnt sie bereits als
Designerin bei der Firma Schleich in Schwäbisch Gmünd zu arbeiten, wo
sie unzählige Spielzeugbiegefiguren und -tiere erfindet und gestaltet. Sie
ist früh erfolgreich bei Aufträgen und Wettbewerben im öffentlichen Raum
(es werden ca. 40 Plastiken, Reliefs und Brunnen realisiert – die Zeit des
Wiederaufbaus sucht nach Künstlern, wie sie es ist, dennoch ist der Erfolg
für eine Frau in diesem Metier außergewöhnlich). Mitte der 1950er Jahre
zieht sie in das neu gebaute Gedok-Atelierhaus. Von 1975 bis 1985
arbeitet sie im Hochbauamt der Landeshauptstadt Stuttgart. Seit Mitte der
1980er Jahre konzentrierte sie sich auf ihre freie künstlerische Arbeit. Sie
erhält ein Stipendium des Landes für die Cité in Paris (es entstehen die
zeichnerischen und schriftstellerischen Paris-Skizzen); sie ist zwanzig Jahre
lang Mitglied der Association pour l’étude de la pensée de Simone Weil
und wird 1995 mit dem Elle-Hoffmann-Preis für das künstlerische
Gesamtwerk ausgezeichnet. Sie stirbt im Mai 2013. „Le silence est aussi
un language“, steht auf der Trauerkarte.


Sie hat keine eigene Familie, keine Kinder, bevorzugt eine gewisse
Unabhängigkeit – auch das ist vielleicht typisch für ein Künstlerinnenleben
dieser Zeit. Ausgestellt und anerkannt wird sie vor allem im süddeutschen
Raum. Nach Draußen zu gehen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
aufzutreten – das hätte wohl nicht zu ihrer eher bescheidenen Art gepasst,
auch wenn ihr Denken alles andere als regional beschränkt war. Stuttgart,
so schreibt sie mal, sei eigentlich nur dank der schnellen Erreichbarkeit
von Paris zu ertragen. Und: sie verfolgt ihre Themen – vor allem im
Bildhauerischen im kleinen wie großen Format, aber auch in der Zeichnung
– intensiv über Jahre hinweg. Es geht ihr nicht um Schnelllebigkeit oder
Wechselhaftigkeit nach Moden; klares Denken und Präzision in der Form
stehen im Vordergrund und verlangen Zeit und Raum. Krieg und
Nachkriegszeit haben sie Sparen gelernt, das Rauchen hilft ihr, den Hunger
auszuhalten; zugleich – oder gerade deswegen – ist sie eine Genießerin.

 

Zwei Linien, so würde ich sagen, bestimmen vor diesem Hintergrund ihr
Denken und künstlerisches Schaffen:
Ihre Liebe zur französischen Sprache, Literatur und Philosophie –
insbesondere ihre Faszination für Simone Weil.
Und die künstlerischen Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland. Sie
gehört den Künstlerkreisen und Zirkeln an – nicht nur studiert sie bei Otto
Baum, damals durchaus ein anerkannter, erfolgreicher Bildhauer; sie steht
auch für Willi Baumeisters Klasse Modell. Der notiert 1944 in seinem
Tagebuch: „Zippel nach Tirol. Sie ist vielseitig: Zeichnen, modellieren,
schreiben und Klavierspielen (Bach!) 19 Jahre alt.“
Beide Vorbilder haben zweifelsohne Eva Zippels künstlerische Sprache mit
beeinflusst. Aber andere wären ebenfalls zu nennen, die in dieser Phase
des Wiederbeginns moderner Kunst in Deutschland wichtig waren – wie
z.B. Henry Moore.

 

Darüber hinaus aber ist sie eben vielseitig interessiert: Unter anderem
trifft sie den Kreis um Max und Margot Fürst und damit auch um HAP
Grieshaber – dessen Wahlspruch malgré tout / trotz alledem auch auf ihr
Leben passt; sie bewegt sich rund um die neuen Tänzerstars aus John
Crankos Kompanie, mit dem insbesondere ihre Schwester eng befreundet
ist. Dazu kommt das Umfeld der Gedok, in dem sie sich sehr engagiert,
und später auch des Stuttgarter Schriftstellerhauses, an dessen
Veranstaltungsleben sie rege teilt nimmt. Und sie gilt, so erzählt Angelika
Fellmer, überall als die Schlaue.

 

Blickt man von heute aus auf die Denkerin und den Gesamtkomplex ihres
Schaffens, so gehört der Vortrag über „Simone Weil und die Schönheit“,
1994 auf Französisch in Chantilly gehalten, sicher zu den Kernstücken von
Eva Zippels Denken und auch ihrer Motivation als Künstlerin, richtet sie
den Text doch „An die Künstler unserer Zeit“.
Sie stellt ein Zitat von Simone Weil an den Anfang ihrer Überlegungen:
„Die Ästhetik ist kein gesondertes Studiengebiet, sie ist der Schlüssel zur
Wahrheit.“ Für sie selbst heißt das, ich habe es vorhin schon zitiert: Ein
authentischer Künstler ist jener, der die Wirklichkeit sucht und die
Wahrheit, die sich hinter ihr verbirgt. Aufmerksamkeit und Notwendigkeit
stehen im Folgenden als Kernbegriffe ihres Denkens – und Aufmerksamkeit
bedeutet (sehr vereinfacht gesagt): den Abstand wahren, der dem
Gegenstand erlaubt, das zu sein, was er ist, und nicht das, was der
Künstler wünscht, das er sei. Der Künstler dürfe nicht in die „Gefühlsfalle“
geraten, sondern er muss „jene Leere schaffen, durch die er die Botschaft
empfangen kann, die der Gegenstand vermittelt“. Nur so ist wahre
Aufmerksamkeit und Offenheit für das Andere möglich.

 

Es ist jene Leere, von der sie hier spricht, die ich in gewisser Weise
ebenfalls als typisch für die Philosophie der Künstler ihrer Zeit betrachten
würde. Denn beispielsweise auch Baumeister (Das Unbekannte in der
Kunst) hat ja nach jener „puren Ursprünglichkeit“ gesucht, von der Eva
Zippel schreibt und die für sie Ausgangspunkt des künstlerischen
Schaffensprozesses ist. Und selbst in den USA beispielsweise beginnt nach
Hiroshima mit John Cage und anderen Künstlern die große Suche nach
Stille und Leere als Anfangspunkt für den kreativen Schaffensprozess.
Weitere Parallelen sind im internationalen Kunst- und Kulturgeschehen
durchaus zu finden. Die Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg, aber
eben auch die philosophischen Debatten der Zeit spielen dabei durchaus
eine Rolle.

 

„Mit Aufmerksamkeit sehen, heißt, jedes Mal zum ersten Mal sehen“,
schreibt sie. Und wenn man das ernst nimmt, dann versteht man, warum
sie den Rückzug sucht und braucht, um ihr Werk zu entwickeln, in dem es
immer wieder darum geht, jede Form der „Ichbezogenheit“ zu überwinden.

 

Aber was passiert nun, wenn man sich dieses künstlerische Werk – so wie
es sich ausschnittweise in dieser von Angelika Fellmer kuratierten
Ausstellung darstellt – tatsächlich anschaut?


Es überrascht – nach all den Jahren immer noch – die ungeheure
Sinnlichkeit der Arbeiten – der Skulpturen wie der Zeichnungen. Der kühle
Kopf der Intellektuellen lässt hier die Lust an der Berührung und der
Körperlichkeit aufspielen. Ganz besonders gilt dies für die mit dem
Rapidographen gezeichneten „Körperlandschaften“ (1993 – 2001), die sich
übers Blatt hinweg entwickeln, durch Verdichtung und Entspannung der
Linie aus ihm herauswölben, einer scheinbar unendlichen Linie, die wie in
einem spielerischen Prozess über das Blatt tanzt, mit sicherer Hand
Pirouetten dreht, Strukturen, Körperteile beinahe dreidimensional aus dem
zweidimensionalen Papier wachsen lässt. Man muss Material und
Handwerk schon ganz genau beherrschen, um solche Zeichnungen
schaffen zu können, so selbstbewusst, ruhig, sicher und zugleich so leicht.
Es sind mehr als Bildhauerzeichnungen, aber es sind ganz deutlich
Zeichnungen einer Bildhauerin. Eine Verführung des Auges steckt in dieser
Hommage an das Körperliche, das man in dieser Form von dieser so
geistigen Frau nicht unbedingt erwarten würde. Die ganze wunderbare
Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit Eva Zippels zeigt sich hier wohl
am Deutlichsten.


Aber natürlich auch in den herrlich haptischen und ebenso
weich-sinnlichen Blei-Mooreiche-Reliefs gegenüber. Auch hier ist schon die
Wahl des Materials sprechend und aufgeladen: die tiefdunkle, uralte, harte
Mooreiche, die Jahrhunderte in sich gespeichert hat; und darüber das
getriebene, eher weiche, aber kantige Blei. Naturgeschichte steckt darin.
Auch das hier immer wieder aufgegriffene „Oval / Gespaltene Form“ spielt
mit erotischen Assoziationen.

 

Oft schon ist über ihre Gabe, Porträts aus der Erinnerung zu schaffen,
gesprochen und geschrieben worden, die in allen Schaffensphasen
entstehen. Hier zeigt sich die Qualität ihrer Aufmerksamkeit dem Anderen
gegenüber. Zig Skizzenbücher und Notizen geben im Nachlass überdies
Zeugnis davon, wie leidenschaftlich sich Eva Zippel über das Zeichnen der
Anverwandlung von Welt durch die Kunst vergewissert hat.

 

Parallel dazu sprießt und keimt es im plastischen Werk und in den Reliefs,
befühlen und berühren die meist weichen plastischen Formen sich, findet
etwas seinen Weg ins Licht, drückt als Korn heraus, wächst. Naturbezüge
sind offensichtlich.

 

So prägnant das Körperliche als Kraft in diesen Arbeiten präsent ist, so
deutlich fehlt es in den Landschaftszeichnungen und in den leeren Räumen
der Stuhl-Serie. Alles Körperliche scheint durch das offene Fenster
entflohen zu sein; menschliche Spuren sind gleichwohl zurückgeblieben.

 

„Um etwas aufnehmen zu können“, so schreibt Eva Zippel in ihrem
Simone-Weil-Vortrag, „muss der Platz frei sein, man muss ausräumen, was
sich dort befindet, an erster Stelle das, was man weiß.“
Man könnte meinen, dass all dieses Leben, diese Fülle, die Liebe zum
Körper und zum Menschen, die ihre Arbeiten zeigen, nur aus der Ruhe, der
gesuchten Leere, der analytischen Klarheit, der Stille und manchmal auch
der selbst gewählten Einsamkeit erwachsen konnte. Die Wirklichkeit zu
durchdringen, um die Wahrheit dahinter zu finden, so zeigt diese
Ausstellung, war für Eva Zippel aber nicht nur ein Weg des Geistes. So wie
sie die Bildhauerei durchaus als „Körperliche Arbeit“ und „Mittel“ verstand,
„intellektuelle Verknotungen aufzulösen, die die Aufmerksamkeit
verhindern“, so war und ist ihre Kunst auch eine Feier des Körpers und der
Natur als Ausdruck „purer Ursprünglichkeit“. Beide Seiten – Geist und
Natur, Intellekt und Körper – beschreiben das Spannungsfeld, aus dem
heraus Eva Zippel ihr Werk entwickelt hat, das dem aufmerksamen Blick –
der ihr eigentlicher Ausgangspunkt war – bis heute Stand hält.

 

Petra von Olschowski